45
Der menschliche Körper ist zu vielen Leistungen imstande, aber seine vielleicht bedeutendste Rolle ist die eines Speichermechanismus für die genetischen Informationen der Spezies.
Tleilaxu-Meister Waff, bei einem Khel
anlässlich des Duncan-Idaho-Ghola-Projekts
Sein Ghola-Sohn war er selbst ... oder er würde es sein, wenn seine Erinnerungen an die Oberfläche geholt wurden. Doch das konnte erst in einigen Jahren geschehen. Scytale hoffte, dass sein alternder Körper noch bis dahin durchhielt.
Alles, was der Tleilaxu-Meister in zahllosen aufeinanderfolgenden Lebenszeiten erlebt und gelernt hatte, war in seinen Genen gespeichert und spiegelte sich in der DNS wieder, die zur Erzeugung des fünfjährigen Scytale-Duplikats benutzt worden war, das nun vor ihm stand. In Wirklichkeit war es kein richtiger Ghola, sondern ein Klon, weil die Zellen von einem lebenden Spender stammten. Das Vorbild für das Kind war nicht tot. Noch nicht.
Doch der alte Scytale spürte den zunehmenden körperlichen Verfall. Ein Tleilaxu-Meister sollte den Tod nicht fürchten, weil er schon seit Jahrtausenden keine reale Gefahr mehr darstellte – nicht, seit sein Volk die Unsterblichkeit durch die Ghola-Reinkarnation entdeckt hatte. Obwohl sich dieses Kind prächtig entwickelte, war es immer noch viel zu jung.
Jahr für Jahr zog der unausweichliche Todesmarsch durch die Systeme seines Körper, und seine Organe funktionierten immer unzuverlässiger. Eingeplanter Verschleiß. Seit Jahrtausenden hatte sich die Masheikh-Elite seiner Rasse zu Geheimsitzungen getroffen, doch sie hatte sich niemals einen Holocaust vorstellen können, wie er nun bevorstand – wie er Scytale nun bevorstand, da er der letzte lebende Meister war.
Wenn er realistisch war, konnte er nicht sagen, was er allein noch zu bewirken vermochte. Mit uneingeschränktem Zugang zu den Axolotl-Tanks hätte Scytale vielleicht andere Meister wiederbeleben können, die wahren Genies seines Volkes. Zellen der Mitglieder des letzten Tleilaxu-Rats waren in seiner Nullentropie-Kapsel gespeichert, doch die Bene Gesserit weigerten sich, Gholas von diesen Männern zu erzeugen. Nach der Aufregung um das Baby Leto II. sowie infolge einer ominösen Vision, die Sheeana in den Weitergehenden Erinnerungen erlebt zu haben behauptete, hatten die Hexen sogar das gesamte Ghola-Programm gestoppt. »Vorläufig«, wie sie sagten.
Wenigstens hatten die Powindah-Frauen ihm endlich seinen Sohn gewährt, eine Kopie seiner selbst. So war Scytale vielleicht doch noch in der Lage, seine Kontinuität fortzusetzen.
Der Junge hielt sich mit ihm in jenem Teil des Schiffes auf, das einst Scytales Gefängnis gewesen war. Seit er seine letzten Geheimnisse offenbart hatte, war Scytales Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit aufgehoben worden. Er konnte die anderen acht Ghola-Kinder beobachten, wie sie der Ausbildung unterzogen wurden, die die Bene Gesserit für notwendig erachteten. Proctor Superior Garimi, die widerstrebend mit der Verantwortung für die jungen Gholas betraut worden war, hatte angeboten, auch seinen Sohn zu unterrichten, doch Scytale hatte abgelehnt, weil er nicht wollte, dass er kontaminiert wurde.
Der Tleilaxu-Meister gab seinem Sohn Privatunterricht, um ihn auf seine große Verantwortung vorzubereiten. Bevor die ältere Inkarnation starb, musste eine große Menge an wichtigen Informationen weitergegeben werden, von denen viele streng geheim waren.
Er wünschte, er hätte die Fähigkeit der Hexen, ihre Erinnerungen zu teilen. Er bezeichnete es als »mentalen Download«. Wenn er seinen Sohn doch nur auf diese Weise hätte erwecken können, aber das Geheimnis dieser Psychotechnik behielt die Schwesternschaft für sich. Keinem Tleilaxu war es je gelungen, die Methode zu ergründen, und eine solche Information war nicht käuflich zu erwerben. Die Hexen behaupteten, es wäre eine Fähigkeit, die nur Frauen zur Verfügung stand, und dass kein Mann sie je erlernen konnte. Lächerlich! Die Tleilaxu wussten und hatten bewiesen, dass Frauen so unwichtig wie die Farbe einer Wand waren. Sie waren lediglich biologische Mechanismen zur Erzeugung von Nachkommen, und dazu war ein intelligentes Gehirn völlig überflüssig.
Allein widmete er sich der Aufgabe, dem Jungen die geheimsten Rituale und Verhaltensvorschriften beizubringen. Obwohl er sich mit Zisch- und Pfeiflauten verständigte, in einer codierten Sprache, die niemand außer den Meistern beherrschen sollte, befürchtete er dennoch, dass die Hexen ihn möglicherweise verstanden. Vor Jahren hatte Odrade versucht, ihn einzulullen, indem sie diese uralte Sprache verwendete, um zu beweisen, dass sie seines Vertrauens würdig war. Für Scytale war es lediglich der Beweis gewesen, dass er niemals ihre Listen unterschätzen sollte. Er vermutete, dass die Hexen Abhörvorrichtungen in seinem Quartier angebracht hatten, aber er durfte keiner Powindah erlauben, von den bedeutenden Mysterien zu erfahren.
Die Verzweiflung hatte ihn in immer kleinere Ecken getrieben. Sein Körper lag im Sterben, und dieses Kind war seine einzige Option. Wenn er nicht das Risiko einging, dass einige seiner Worte mitgehört wurden, hätte es die Konsequenz, dass diese heiligen Geheimnisse mit ihm starben. Wundervolles Wissen, das dann für immer verschwunden wäre. Was war schlimmer – die Aufdeckung oder die Auslöschung?
Scytale beugte sich vor. »Du trägst eine große Bürde. Nur wenige in unserer ruhmreichen Geschichte hatten jemals eine solche Verantwortung. Du bist die Hoffnung der Tleilaxu und meine persönliche Hoffnung.«
Der vertraute Junge schien gleichzeitig eingeschüchtert und begeistert zu reagieren. »Was soll ich für dich tun, Vater?«
»Ich werde es dir zeigen«, sagte Scytale auf Galach, bevor er erneut in die uralte Sprache wechselte. Der Junge hatte sie ausgesprochen schnell erlernt. »Ich werde dir viele Dinge erklären, aber all das dient nur der Vorbereitung, als Grundlage für dein Verständnis. Sobald ich deine Erinnerungen wachgerufen habe, wirst du alles intuitiv wissen.«
»Aber wie willst du meine Erinnerungen wachrufen? Wird es wehtun?«
»Es gibt keinen größeren Schmerz und keine größere Befriedigung. Es lässt sich nicht beschreiben.«
Der Junge antwortete ohne Zögern. »Die Essenz des s'tori ist das Verständnis der Unbegreiflichkeit.«
»Ja. Du musst sowohl deine Unfähigkeit zur Erkenntnis und die Wichtigkeit akzeptieren, die Schlüssel zu diesem Wissen zu hüten.« Der alte Scytale lehnte sich auf seinem Kissen zurück. Der Junge war schon fast genauso groß wie er. »Hör mir zu, während ich dir vom verlorenen Bandalong erzähle, unserer wunderbaren heiligen Stadt auf der heiligen Welt Tleilax, wo unser Großer Glaube begründet wurde.«
Er beschrieb die glorreichen Bauten, die Türme und Minarette sowie die geheimen Kammern, in denen fruchtbare Frauen gehalten wurden, um die erwünschten Nachkommen zu erzeugen, während andere zu Axolotl-Tanks konvertiert wurden, um den Tleilaxu ihre Forschungen zu ermöglichen. Er sprach davon, wie der Rat der Meister den Großen Glauben über viele Jahrtausende im Stillen bewahrt hatte. Er erklärte, dass die verschlagenen Tleilaxu die übelwollenden Außenweltler getäuscht hatten, indem sie vorgaben, schwach und gierig zu sein, sodass die Tleilaxu stets von den anderen unterschätzt wurden – eine List, mit der die Saat des letztlichen Sieges ausgestreut werden sollte.
Sein Ghola-Sohn nahm alles in sich auf, ein gebanntes Publikum für einen begabten Geschichtenerzähler.
Der alte Scytale musste baldmöglichst den Anstoß für die internen Erinnerungen seines Duplikats geben. Es war ein Wettlauf gegen die Zeit. Die Haut des Meisters zeigte bereits Flecken, während seine Hände und Beine merklich zitterten. Wenn er doch nur mehr Zeit hätte!
Der Junge rutschte unruhig hin und her. »Ich habe Hunger. Werden wir bald essen?«
»Wir können uns keine Unterbrechung erlauben! Du musst so viel wie möglich aufnehmen.«
Der Junge atmete tief durch, legte das kleine, spitze Kinn in die Hände und widmete dem Meister seine ganze Aufmerksamkeit. Scytale setzte erneut zum Sprechen an, doch diesmal redete er noch schneller.